e r i n n e r n : g e s t a l t e n
Ein Projekt zum Thema Kritische Erinnerungskultur an der Universität Jena

Ein Büstenstreit in Jena?

Seit dem Wintersemester 2000/2001 befindet sich im Hörsaal Z1 des Instituts für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena neben den Büsten Fichtes, Schellings, Hegels sowie Freges auch eine Porträtbüste von Jakob Friedrich Fries. Sie wurde am 25. Oktober 2000 feierlich enthüllt, obwohl seine antisemitischen Schriften bekannt waren und längst auch problematisiert wurden.

Knapp 20 Jahre später wurde Fries Gegenstand einer Kontroverse im Jenaer Stadtrat, als ein Abgeordneter mit dem Hinweis auf dessen antisemitische Äußerungen einen Antrag zur Umbenennung des Frieswegs einbrachte. Der Antragsteller begründete sein Anliegen damit, dass Friesals ein Vordenker der Burschenschaftler und glühender Antisemit ‚die Judenvernichtung vorgezeichnet‘[1] habe. Doch es gab auch Einwände gegen eine Umbenennung, die damit begründet wurden, dass der Antisemitismus zu Lebzeiten von Fries ‚normal‘ gewesen sei und dass er sich wesentlich vom rassistisch begründeten Antisemitismus in Zeiten des Nationalsozialismus unterscheide, dessen Ziel die Vernichtung von Jüdinnen und Juden war.[2]

Anlässlich dieser Debatte kam es auch im Institut für Philosophie zu einer Auseinandersetzung mit der Büste im eigenen Hörsaal. Auf Initiative der Fachschaft Philosophie wurde die Büste zunächst verhüllt. Ein Arbeitskreis aus Studierenden und Dozierenden sucht seitdem nach Möglichkeiten eines zugleich reflektierten und kritischen Umgangs mit ihr. Um diese Auseinandersetzung gemeinsam mit vielen Studierenden zu führen, wurden vom Team des Lehrstuhls für Praktische Philosophie zwei Seminare organisiert: im Sommersemester 2020 das Forschungsseminar „Antijudaismus und Antisemitismus in Werken der Philosophie – diskutiert am Beispiel des Jenaer Philosophen J. F. Fries“, dessen Ergebnisse bereits online publiziert wurden; im Wintersemester 2020/21 das Seminar „Reflektierter Aktivismus – Wie umgehen mit umstrittenen Büsten und Denkmälern? Beispiel: J. F. Fries“. Beide Seminare versuchten, sowohl den Umgang mit seinen Werken im philosophischen Fachdiskurs als auch die ihm gewidmeten Ehrungen in Jena kritisch zu reflektieren.

Auf dieser Webseite werden nun erste Ergebnisse vorgestellt. Vor allem aber soll zum weiteren gemeinsamen Nachdenken, Reflektieren und Gestalten angeregt werden.

Fries Denkmal

Fotos: Universitätsarchiv der FSU Jena

Wo wird warum an Fries erinnert?

An Fries wird an mehreren Orten in Jena erinnert. In einem Vorlesungssaal des Instituts für Philosophie der FSU Jena ist eine Büste von ihm aufgestellt, in Jena Nord ist eine Straße nach ihm benannt und auf dem Johannisfriedhof steht sein Grabstein. Das eindrucksvollste Denkmal zu seinen Ehren ist aber wohl die Büste am Fürstengraben, gegenüber dem Botanischen Garten. Sie wurde im Jahr 1873 anlässlich seines 100. Geburtstages eingeweiht und ist zugleich Teil der sog. ‚Ehrengalerie‘ oder ‚via triumphalis‘ am Fürstengraben. Die Denkmäler am Fürstengraben wurden zum Gedenken an Universitätsgelehrte errichtet, die gleichzeitig auch für die nationale Bewegung von Bedeutung waren. Vor allem in universitären Kreisen war die Idee eines geeinten Deutschen Nationalstaats lange vor der Reichsgründung präsent. Auch Fries wird also in diesem Zusammenhang als ein prominentes Mitglied der nationalen Bewegung geehrt. Er stand den Studenten nahe, die 1815 in Jena die Urburschenschaft gründeten und für eine ‚Deutsche Nation‘ kämpften. Teil der ‚Ehrengalerie‘ am Fürstengraben ist auch das nahegelegene Burschenschaftsdenkmal, das 1883 eingeweiht wurde und an diese „Keimzelle des deutschen Nationalbewusstseins“[1] erinnern soll.

Fries in akademischen Ehren

Am 25. Oktober 2000 wurde in einem Hörsaal des Instituts für Philosophie der FSU Jena eine Porträtbüste von J. F. Fries feierlich enthüllt. Als Grund für die Aufstellung in diesen Räumlichkeiten wurde angeführt, dass „neben der historischen Pflege des großen Erbes der spekulativen Philosophie in Jena“ – vertreten durch Büsten der Philosophen Fichte, Schelling und Hegel – „gleichberechtigt auch die kritische Tradition der Philosophie in Jena historisch zu vergegenwärtigen und systematisch zu erforschen“[1] wäre. Damit wurde eine eigene Jenaer philosophische Tradition unterstellt, die sowohl innerhalb der Universität als auch in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden sollte. In diesem Zusammenhang wurde zudem eine philosophische Fachtagung organisiert, an der sich nachvollziehen lässt, dass die philosophiegeschichtliche Relevanz von Fries als gewichtiger angesehen wurde als seine damals bereits kontrovers diskutierten judenfeindlichen Äußerungen. Schwerer als letztere wog das „Gold“, das in Fries‘ Philosophie vermutet wurde und „das es zu heben gilt“.[2]

Fast das gesamte damalige Institut für Philosophie feierte mit ca. 50 weiteren Personen, u.a. der Universitätsleitung und Kustodie, die Enthüllung seiner Büste. Als Festredner fungierte einer der Herausgeber der Sämtlichen Schriften von Fries.[3]

Zeitzeugen im Gespräch: Die Fries-Büste 2000 und heute

Gottfried Gabriel, Wolfgang Kienzler und Klaus Vieweg, die alle 2000 am Institut für Philosophie gearbeitet und die Einweihungsfeier der Büste miterlebt haben, bieten ihre Sicht der Dinge: zur Relevanz der Werke von Fries für die Philosophiegeschichte im Allgemeinen und die Jenaer Philosophietradition im Besonderen, zu seinen antisemitischen Äußerungen, zu seiner Ehrung am Institut für Philosophie und dem weiteren Umgang mit seiner Büste im Vorlesungssaal Z1.

Interview

Wolfgang Kienzler

PD Dr. Wolfgang Kienzler ist seit 1995 am Institut für Philosophie in Jena beschäftigt, von 1995 bis 2009 am Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie.

Interview

Klaus Vieweg

Prof. Dr. Klaus Vieweg lehrt seit 1980 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forscht vor allem zu Hegel und zum Deutschen Idealismus.

Interview

Gottfried Gabriel

Prof. Dr. Gottfried Gabriel war von 1995 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Logik und Wissenschaftstheorie.

Vollständiges Interview

Lieber Herr Gabriel, vielen Dank, dass Sie sich bereit erklären, dieses Interview mit uns in schriftlicher Form zu führen. Wir würden Sie bitten, sich zu Beginn einmal kurz vorzustellen, auch wie lange Sie in Jena und am Institut für Philosophie tätig waren.

Ich bin Jahrgang 1943. Promotion und Habilitation an der Universität Konstanz, 1992 Professor für Logik und Sprachphilosophie in Bochum. Von 1995 bis 2009 hatte ich den Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität Jena inne. Nach meiner Pensionierung bin ich nach Konstanz zurückgekehrt, wo ich weiterhin (unbezahlte) Vorlesungen anbiete. In den Zeiten der digitalen Lehre habe ich diese Tätigkeit ausgesetzt. Schwerpunkte meiner Arbeit sind (außer Logik und Wissenschaftstheorie) vor allem Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Ästhetik und Politische Ikonographie. Informationen zu Publikationen sind der Homepage des Instituts zu entnehmen.

Wir befassen uns momentan mit der Aufstellung der Fries-Büste im Hörsaal Z1 im Philosophie Institut. Können Sie uns hierzu noch einmal sagen, wer Fries war bzw. welche Rolle er für die Philosophie spielt?

Fries ist ein Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie und insofern ein Antipode des Deutschen Idealismus. Als solcher kommt ihm gerade in Jena eine besondere Rolle für die Philosophie zu. In der Jenaer Philosophie haben beide Richtungen eine lange Tradition, die bis ins 20. Jahrhundert reicht. Ein wesentliches Motiv, eine Büste von Fries aufzustellen, war denn auch, diese beiden Traditionen mit Fichte, Schelling und Hegel auf der einen Seite und Fries und Frege auf der anderen Seite einander (auch räumlich) ‚gegenüber‘ zu stellen. Scherzhaft sprachen wir im Sinne des Fußballs davon, dass mit Fries die wissenschaftliche Philosophie den ‚Anschlusstreffer‘ erzielt hat, der Deutsche Idealismus mit 3:2 aber Sieger geblieben ist.

Im Vorlesungssaal Z1 der Philosophie ist die Büste von Fries aufgestellt. Als Ideengeber gilt Wolfram Hogrebe, der die Büste ja bereits 1999 angekündigt hatte. Können Sie uns etwas mehr erzählen zu der Auseinandersetzung mit Fries im Kontext der angekündigten Ehrung oder der tatsächlichen Einweihung der Büste 2000?

Erwähnen möchte ich zur Herstellung der Büste vorab Folgendes: Der Kopf der Jenaer Büste ist die Kopie eines Originals, das sich in Privatbesitz in Berlin befindet. Die Kopie wurde von einer Berliner Gießerei angefertigt. Der ‚Unterbau‘ ist in Analogie zu den anderen Büsten in der Kustodie der FSU angefertigt worden. Die Anfragen, Aufträge und der ganze Vorgang wurden von mir als dem damaligen Geschäftsführenden Direktor abgewickelt.
Die Auseinandersetzung mit Fries fand auf einer Tagung statt und betraf vor allem das wissenschaftliche Werk. Erschienen ist ein Tagungsband: Wolfram Hogrebe/Kay Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker. Frankfurt am Main 1999. Eine Auseinandersetzung mit Fries’ Antisemitismus findet sich dort in den Beiträgen des Mitherausgebers der Fries-Ausgabe Lutz Geldsetzer (S. 42–44) und besonders in dem differenzierten Aufsatz von Gerald Hubman: „Menschenwürde und Antijudaismus. Zur politischen Philosophie von J. F. Fries“ (S. 141–165), der die praktische Philosophie von Fries würdigt. Hubmanns Ausführungen sollte man unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Wie war die Einweihungsfeier der Büste gestaltet? Gab es auch eine kritische Auseinandersetzung mit Fries?

Der Mitherausgeber der Fries-Ausgabe, Professor Gert König aus Bochum, hat in seiner Einführungsrede die antisemitischen Aussagen deutlich als Verfehlungen herausgestellt.

Gab es eine Diskussion um die Aufstellung der Fries-Büste? Wenn ja, wie verlief diese?

Ich kann mich an eine solche Diskussion im Institut nicht erinnern, außer daran, dass Kollege Klaus Vieweg sich unter Berufung auf Hegel, der Fries als „Heerführer der Seichtigkeit“ bezeichnet hat, mehrfach abfällig zur Philosophie von Fries geäußert hat.

Fand in der Zeit der Aufstellung eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus bzw. Antijudaismus in den Werken Fries’ statt?

Da es keine Diskussion gab, gab es auch keine Auseinandersetzung.

Gerade in Bezug auf den Friesweg gab es ja Einordnungen des Antijudaismus bei Fries von ‚zeitgemäß‘ bis hin zu Fries als Vordenker der Shoah. Wie würden Sie die Äußerungen Fries’ bewerten?

Antisemitische Auffassungen waren in der Zeit von Fries in der Tat leider verbreitet, was die Aussagen nicht entschuldigt. Fries in Verbindung mit der Shoah zu bringen, halte ich für einen Anachronismus. Wir können nicht wissen, wie Fries sich im Nationalsozialismus verhalten hätte. Politisch betrachtet war Fries ein Liberaler, und er erhielt deshalb zeitweise Berufsverbot.

Befürworter der Büste argumentierten, dass es auch um das Gold in den Fries’schen Werken ginge, das es noch zu heben gälte. Was denken Sie, gibt es dieses Gold und was könnte es sein?

Meines Erachtens besteht die Bedeutung von Fries in der bereits erwähnten wissenschaftlichen Auffassung von Philosophie, wodurch er zu einem Vorläufer moderner Wissenschaftstheorie geworden ist. Seine „Logik“ zeichnet die treffliche Behandlung der Rolle der Urteilskraft gegenüber anderen Logiken aus. Besonders gelungen finde ich seine Unterscheidung zwischen „Philosophen des Witzes“ und „Philosophen des Scharfsinns“, wobei mit ‚Witz‘ (lat. ingenium) das analogische Erkenntnisvermögen gemeint ist. Auf diese Unterscheidung habe ich mich bereits in meiner Jenaer Antrittsvorlesung „Ästhetischer Witz und logischer Scharfsinn“ bezogen. Für eine umfassende Würdigung der Philosophie Fries’ siehe den angeführten Tagungsband.

Wie würden Sie generell die Auseinandersetzung mit Philosoph:innen, die antisemitisch, rassistisch oder sexistisch waren, betrachten?

Das lässt sich nicht „generell“ sagen. Es kommt auf den Einzelfall an. Es wäre zum Beispiel absurd, Kant wegen einiger früherer negativer Äußerungen zu Rassenunterschieden, die zudem durch spätere Aussagen als korrigiert anzusehen sind, oder Schopenhauer wegen seiner ‘weiberfeindlichen’ Ausfälle aus dem philosophischen Kanon streichen zu wollen.

Aktuell ist die Büste von Fries im Hörsaal Z1 verhüllt. Was halten Sie von dieser Maßnahme?

Ich finde diese Maßnahme nicht richtig. Falls auch in Jena derzeit keine Präsenzlehre stattfindet, verfehlt sie zudem ihren Zweck; denn was niemand sieht, muss man auch nicht verhüllen.

Wieso denken Sie, dass dieser Schritt erst 20 Jahre nach der Aufstellung kommt? Wie, würden Sie sagen, hat sich das Problembewusstsein in den letzten 20 Jahren vielleicht auch verändert?

Ich erkläre mir dies dadurch, dass die politische Korrektheit sich auf allen Ebenen durchgesetzt hat.

Wie wäre ihre Reaktion, wenn die Büste heute noch einmal aufgestellt werden würde?

Ich wäre wieder dafür.

Als letzte Frage von uns wäre nun noch, was ihr präferierter weiterer Umgang mit der Fries-Büste im Hörsaal Z1 wäre?

Ich bin dezidiert dafür, dass die Büste stehen bleibt, schon deshalb, weil sonst die Grundidee, die philosophischen Richtungen in Jena zu repräsentieren, verloren ginge. Auf der Website wäre ein Zugang (per Link) zur Darstellung der Geschichte der Philosophie in Jena zu ermöglichen. Material findet sich in dem Buch von Max Wundt „Die Philosophie an der Universität Jena“ (Jena 1932). Wundt war leider Antisemit und Nationalsozialist. Sein Buch ist ‚dennoch‘ lesenswert. In der Darstellung auf der Homepage wäre dann der Antisemitismus von Fries kritisch zur Sprache zu bringen. Dabei sollten auch der Antisemitismus von Fichte und einige problematische Äußerungen meines Philosophen Frege nicht verschwiegen werden.

Wir möchten uns jetzt herzlich für das Interview bedanken. Haben Sie noch Anmerkungen oder möchten Sie uns noch etwas erzählen oder auf etwas hinweisen, das wir vielleicht übersehen haben?

Anmerken möchte ich noch Folgendes:

  1. Am Fürstengraben steht ja ebenfalls eine Fries-Büste – in Übergröße. Wie will man damit umgehen? Zu meiner Zeit in Jena war (und ist vielleicht noch) auf der Rückseite der Hinweis aus DDR-Zeiten angebracht, dass Karl Marx von Fries promoviert worden ist. Darauf war man in Jena anscheinend stolz. Die Promotion von Marx erfolgte allerdings in Abwesenheit (in absentia) des Kandidaten. Eine solche Promotion – einzig auf Grund einer eingereichten Arbeit ohne Rigorosum – war an manchen Universitäten möglich. Marx hatte übrigens Jena gewählt, weil hier die Doktorarbeit nicht in lateinischer Sprache abgefasst sein musste!
  2. Der Philosoph Leonard Nelson war von väterlicher und mütterlicher Seite jüdischer Abstammung. Dies hinderte ihn trotz des Antisemitismus von Fries nicht, als entschiedener Verfechter von dessen Philosophie aufzutreten. Nelson war der maßgebliche Mitbegründer der Neufries’schen Schule, welcher bedeutende Wissenschaftler angehörten. Er vertrat einen ethischen Sozialismus und war ein Gegner des Nationalsozialismus.

Wo wird eigentlich an wen erinnert?

1806 löste sich infolge der napoleonischen Eroberungskriege das sogenannte Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf. Im selben Jahr errang Napoleon Bonaparte direkt vor den Toren Jenas einen wichtigen Sieg gegen Preußen. In den anschließenden Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 gegen die französische Besatzung beteiligten sich zahlreiche Studenten der späteren Burschenschaftsbewegung in den Lützowschen Freikorps. 1815 gründeten die national gesinnten Studenten die Urburschenschaft in Jena. Verbunden waren sie einerseits durch die Ablehnung der Franzosen, der Aufklärung und der Judenemanzipation, andererseits durch ihr Ziel: die Errichtung eines demokratischen deutschen Nationalstaats. Seine soziale Basis hatte die nationale Bewegung vor allem im bürgerlich-akademischen Milieu der Universitäten.

Die Aufstellung einer Ehrengalerie“ (via triumphalis“) zur Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten aus universitären Kreisen am Jenaer Fürstengraben begann 1857, also noch vor der Reichsgründung.[1] Erst im Zuge der Einigungskriege unter der Führung Preußens gegen Frankreich zwischen 1864 und 1871 wurde die erhoffte Einigung hergestellt. Das 1871 neu gegründete Deutsche Reich wurde eine konstitutionelle Monarchie. Sein Nationalismus wurde weniger durch die bürgerlich-akademischen Gelehrten der Universitäten als vielmehr vom preußisch-militärischen Geist geprägt.

1873, zwei Jahre nach der Reichsgründung, wurde in der Reihe der Ehrengalerie“ am Fürstengraben ein Denkmal zu Ehren des – so die Inschrift am Sockel – bedeutenden Kantianers“ J. F. Fries errichtet.[2] Die Einweihungsfeier gestaltete die Jenaer Bürgerschaft gemeinsam mit der Burschenschaft im Sinne der nationalen Idee.

1972, in der Zeit der deutschen Teilung und des kalten Krieges, wurde das Denkmal restauriert und die Inschriften am Sockel im Sinn der Parteidoktrinen der damaligen SED erweitert und verändert: Mit einer neuen Inschrift wurde auf Fries‘ Lehrverbot „aus politischen Gründen“ hingewiesen, was wohl dazu dienen sollte, ihn in die Tradition von Freiheitskämpfern zu setzen. Zudem wurde in Stein gemeißelt, er habe die Promotion von Karl Marx befürwortet“ und sei Vertreter des Klassischen Deutschen Idealismus“. Beides lässt Fries als Vordenker der Marx’schen Theorie erscheinen. Aber an beidem darf gezweifelt werden: So bekannte sich Marx zwar zum Idealismus Hegels, den er vom Kopf auf die Füße stellen wollte, doch standen Hegel und Fries einander unvereinbar und sogar offen feindlich gegenüber. Zudem findet sich zwar eine Unterschrift von Fries auf der Doktorunterkunde von Marx, aber das besagt nichts über seine Beteiligung am Promotionsverfahren, das in absentia“ (in Abwesenheit von Marx) abgewickelt wurde.[3]

„Es sind […] die Werte der beteiligten Subjekte, die in Denkmalsetzungen, -anfechtungen und -stürzen zum Ausdruck kommen. Und diese sind ebenso ungezählt und beliebig wie die Formen ihrer Erscheinung. Denkmäler wurden gesetzt für Monarchen und Republikaner, für Tyrannen und Tyrannenmörder; es existieren faschistische und antifaschistische, kommunistische und antikommunistische, militaristische und pazifistische Manifestationen, vice versa angefochten und gestürzt.“

Berthold Hinz: Denkmäler. Vom dreifachen Fall ihrer „Aufhebung“, in: Michael Diers (Hg.): Mo(nu)mente. Formen und Funktionen ephemerer Denkmäler. Berlin: Akademie, S. 301.

Die Jenaer Ehrengalerie

Die Denkmäler […] inszenieren Jena als Stätte der Wissenschaften; darüber hinaus bewahren sie aber in ihrer Gesamtheit ein freiheitliches Erbe, dessen nationale Bedeutung vor 1870 oppositionellen Charakter trug, danach aber wesentlich affirmativen.“[1]

Die enge Beziehung zwischen der Stadtgeschichte Jenas und der Universität lässt sich – im wörtlichen Sinne – im Vorbeigehen an den Büstendenkmälern der sogenannten ‚via triumphalis‘ am Fürstengraben nachvollziehen. Hier sollten Persönlichkeiten geehrt werden, die sich wissenschaftlich, aber vor allem auch politisch um die nationale Einheit Deutschlands verdient gemacht hatten. Zwischen 1857 und 1906 wurde auf Initiative verschiedener wissenschaftlicher Vereine, insbesondere aber burschenschaftlicher Verbände eine Art ‚Ehrenmeile‘ für das akademische Bürgertum errichtet. Lorenz Oken, Friedrich Gottlieb Schulze-Gaevernitz, Fritz Reuter, Karl von Hase, Karl Volkmar Stoy, Friedrich Schaeffer, und eben auch: Jakob Friedrich Fries wurden hier auf die Sockel gestellt. Die Stadt Jena präsentierte sich mit dieser Auswahl als wissenschafts- und fortschrittsorientierter Ort, dessen Universität als eine „nationale Keimzelle“ in die Öffentlichkeit hineinwirken sollte.

Doch um die Auswahl im Einzelnen gab es von Beginn an auch Kontroversen. Vor allem die Aufstellung von Lorenz Okens Denkmal war seinerzeit umstritten. Oken war aufgrund des von ihm vorgeschlagenen nationalen Bildungsprogramms in Konflikt mit der Weimarer Regierung geraten und hatte daraufhin seine Professur niedergelegt. Sein Denkmal aufzustellen war zu einer Zeit der Restauration durchaus ein oppositioneller Akt. Das Fries-Denkmal wurde dagegen erst nach der Reichsgründung (1871) enthüllt. Fries konnte dadurch zum Vorkämpfer der deutschen Einheit stilisiert werden und sein Denkmal zur Befestigung der Identität dienen.

Was ist eigentlich ein Denkmal?

Denkmäler sind ein fester Bestandteil unserer Erinnerungskultur. Sie sollen bestimmte vergangene Ereignisse, Personen oder Orte ins Gedächtnis rufen. Sie dokumentieren somit auch, welchen Themen zum Zeitpunkt ihrer Aufstellung eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wurde. Oft werden sie zur Identitätsbildung von Gruppen oder Gesellschaften aufgestellt und sind mit einen (gedächtnis-)politischen Machtanspruch verbunden: Sie verschaffen dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum und halten ihn in unserem „kollektiven Gedächtnis“. Durch die besondere Art, wie Denkmäler ihr Objekt präsentieren und wie sie mit ihrer Umgebung interagieren, nehmen sie auch in bestimmter Weise Stellung. Damit können sie das, auf was sie scheinbar nur verweisen, zugleich etwa würdigen oder verherrlichen, aber auch abwerten oder davor warnen. Ihre Botschaft lautet: Etwas, das war oder ist, möge künftig in dieser Weise wahrgenommen und erinnert werden.

Das bedeutet aber zugleich auch: An wen und in welcher Weise mit Denkmälern erinnert wird oder werden soll, liegt in der Verantwortung, aber auch in der Verfügungsmacht derjenigen Generationen, die sie jeweils erben. Die Auseinandersetzung mit den Fragen des Umgangs und der weiteren Tradierungen stellen sich daher immer wieder aufs Neue und bleiben unabschließbare Aufgaben.

Was ist ein Denkmal?
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Was sind Zeichen?

Zeichen sind (in der Regel: sinnlich wahrnehmbare) Phänomene, die für etwas anderes stehen, etwas Abwesendes repräsentieren oder auf etwas hindeuten. Sie sind Medien der Kommunikation im allgemeinsten Sinne. An sprachlichen Zeichen werden seit Ferdinand de Saussure das Bezeichnende (signifiant) und das Bezeichnete (signifié) unterschieden und ihr Zusammenhang als konventionell gedeutet.[1]

Die allgemeine Theorie der Zeichen, die Semiotik, arbeitet mit einem umfassenden Zeichenbegriff. Im Anschluss an Charles S. Peirce und Charles Morris untersucht und bestimmt die Semiotik Zeichen aller Art: Alles kann zu einem Zeichen werden.[2] Peirce zufolge haben Zeichen eine triadische (also dreiteilige) Struktur. Sie entsteht in dem Beziehungsgeflecht zwischen einem Zeichen im engeren Sinne, einem Objekt, auf das Bezug genommen wird und dem sogenannten Interpretanten (einer allgemeinen Überzeugung, eines allgemeinen Wissens, einer Theorie).

Das Zeichen (im engeren Sinne) bezieht sich auf das bezeichnete Objekt, wenn es durch einen Interpretanten (also unter Anwendung einer allgemeinen Überzeugung, eines Erfahrungswissens oder einer Theorie) damit verbunden wird. Zeichen können laut Peirce ihre Objekte entweder ikonisch (durch eine Ähnlichkeitsbeziehung), indexikalisch (durch eine unmittelbare oder kausale Verbindung mit dem Objekt) oder symbolisch (auf der Basis bekannter Konventionen) darstellen. Nur wenn ein:e (einzelne:r) Interpret:in die (gesetzmäßige, durch den einen Interpretanten hergestellte) Verbindung kennt, kann er auch etwas als Zeichen und Objekt bestimmen. Wahrnehmung und Interpretation von Zeichen sind somit abhängig von den in Gesellschaft oder Wissenschaft geltenden und anerkannten Interpretanten und ihrem Wandel.

Weiterführende Literatur:
Mersch, Dieter: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis Umberto Eco und Jacques Derrida, München 1998.
Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen, übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt am Main 1993.

Denkmäler im Fluss – Denken und Gedenken ändern sich

Mit dem Wandel des gesellschaftlichen Selbstverständnisses verändert sich die Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Dabei ändert sich nicht nur die Auswahl der Ereignisse oder Personen selbst, sondern auch die Art ihrer Darstellung. Während Eroberungsschlachten und Kriege, Feldherren, Eroberer und Kolonisateure lange heroisierend präsentiert wurden, erinnern Denkmäler heute daran vor allem mahnend und ehren Persönlichkeiten, die dagegen aufbegehrten oder als Friedensstrifter:innen auftraten. Verbreitet scheint die Ansicht, dass die Feier „großer Individuen“ und der Ausschluss ganzer Ethnien und Bevölkerungsgruppen aus der öffentlichen Erinnerungskultur modernen pluralistischen Gesellschaften nicht mehr angemessen ist.

Auch die Wahrnehmung selbst und die Rezeption von Denkmälern wird von den historischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mitbestimmt und ist abhängig von der unmittelbaren Umgebung des Denkmals. Nicht nur wem oder was ein Denkmal errichtet wird, sondern auch wie unsere Gesellschaft ihr Gedenken und ihre Erinnerung gestalten soll, wird gegenwärtig unter der Forderung nach einer „kritischen Erinnerungskultur“ ausgefochten.

Bedeutungswandel

So konnte etwa die Aufstellung des Oken-Denkmals vor der Gründung des Deutschen Reichs 1871 noch als ein oppositioneller Akt gedeutet werden. Die Errichtung des Fries-Denkmals im Jahre 1873 war dagegen nicht mehr als oppositionelle Geste zu interpretieren, konnte aber Fries zum Vorkämpfer der bereits bestehenden nationalen Einheit stilisieren. Die Errichtung dieses Denkmals erhielt durch den geschichtlichen Wandel eher eine staatstragende Bedeutung. Beide Rezeptionsmöglichkeiten waren mit der Aufstellung der Fries-Büste im Jahr 2000 sicherlich nicht intendiert. Die Rezeption dieser Büste wurde daher durch die unmittelbare Nachbarschaft zu den dort schon angebrachten Büsten von Hegel, Fichte, Schelling und Frege vor allem auf Fries’ Bedeutung in der Philosophie geleitet, und nicht auf seine politischen Anliegen.

Doch in der Wahrnehmung und Rezeption von Denkmälern stellen sich oft Verbindungen ein, die über die räumliche und zeitliche Position des jeweiligen Objekts hinausgehen. Auf diese Weise kann ein Denkmal – durchaus auch gegen die Intention derer, die es aufgestellt haben – gravierende Umdeutungen erfahren. Je nach Kontext wird ein Denkmal mit einem Mal als unangemessen und problematisch wahrgenommen oder erfährt durch die neue Verbindung eine Relativierung oder Ironisierung. Auch vorhandene Denkmäler, an die wir bereits gewöhnt sind, können so in einen gesellschaftlichen Diskurs geraten und zur kritischen Reflexion anregen – auch in Bezug auf die eigenen Rezeptionsgewohnheiten und eine angemessene, künftige Denkmalpraxis.

Was ist Erinnerung?

In der Erinnerung wird Vergangenheit rekonstruiert.“[1]

Als Erinnern kann man den Akt bezeichnen, mit dem Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen und in der Gegenwart repräsentiert bzw. aktualisiert werden. Es handelt sich dabei um ein aktives, teilweise auch rekonstruktives Bezugnehmen auf bestimmte Gedächtnisinhalte. Die Motivation, sich zu erinnern, geht von der Gegenwart aus. Dabei müssen wir die erinnerten Inhalte nicht zwingend selbst erlebt haben; sie können uns auch durch soziale Überlieferungen (Erzählungen, Bücher, Filme etc.) vermittelt werden. Im Akt des Erinnerns nehmen wir aber durchaus Einfluss auf die erinnerten Inhalte selbst, vernachlässigen bestimmte Aspekte, betonen andere, verändern sie – unmerklich oder bewusst.[2] Emotionen, Überzeugungen und soziale Kontexte beeinflussen die Ausgrenzung und Verdrängung von Gedächtnisinhalten.“[3] Diese Faktoren bestimmen, was wir wie erinnern – und auch, was uns dafür nicht relevant genug erscheint.

Ein Denkmal für den Philosophen Fries?

Mit der Aufstellung der Büsten wollte das Institut die philosophische Tradition des Standortes Jena sichtbar machen. Hegel, Fichte, Schelling, Frege und Fries wurden als ‚Klassiker‘ der Philosophie ausgewählt. An ihre Philosophie sollte fortan sachlich angeschlossen werden. Die Aufstellung der Portraitbüse von Fries, die als letzte dazukam, repräsentiert die Verbundenheit des Instituts mit der durch Fries weitergeführten kantischen und wissenschaftstheoretischen Tradition.

Mit den Porträtbüsten wird an eine traditionelle Weise an die philosophische Geschichtsschreibung angeschlossen. Sie rücken durch Darstellungen ‚großer Philosophen‘ deren Person und individuelle Leistung in den Vordergrund. Und sie untermauern dies auch durch ihre erhöhte (und überhöhte) Positionierung im Raum. Die politischen Ansichten von Fries und seine antijüdischen Agitationen können mit dieser Form der Ehrung gerade nicht vom philosophischen Gehalt seines Werkes unterschieden werden. Sie überlagern sich in der öffentlichen Anerkennung – ganz unabhängig davon, ob dies intendiert ist oder nicht.

Ein Hoch auf Fries?

Denkmäler und Büsten werden sinnlich wahrgenommen und wirken durch ihre besondere Gestaltung und Positionierung im Raum. Sie vermitteln ihre Botschaften auf ästhetische Weise. Auch die eher unscheinbare Fries-Büste im Seminarraum kann auf uns Einfluss nehmen – gleichsam ‚hinter unserem Rücken‘.

Wenn ich den Hörsaal Z1 des Philosophischen Instituts betrete, umschließt mich ein heller freundlicher Raum. Die hellgraue Holzvertäfelung zwischen den beiden großen Fensterfronten lässt den Hörsaal fast ein wenig gemütlich wirken. Hinten an der Wand befinden sich fünf weiße Büsten, die von hoch oben alles zu überblicken scheinen. Auf der linken Seite sind Fichte, Schelling und Hegel angebracht, auf der rechten Seite Frege und Fries. Um ihrem Blick, den sie von oben auf mich werfen, begegnen zu können, ja schon um sie nur anzusehen, bin ich gezwungen, meinen Kopf tief in den Nacken zu legen. Ich muss im wahrsten Sinne des Wortes zu ihnen aufschauen – zu den ‚großen Philosophen‘, den Philosophen, die ‚die‘ Philosophie Jenas repräsentieren sollen. Finde ich mich als Philosophiestudent:in in ihnen wieder? Soll ich das überhaupt? Oder soll ich sie nicht vor allem bewundern? So wie sie da über mir thronen, scheinen sie nicht an einem Dialog mit mir interessiert. Ich fühle mich eher von den über mir schwebenden Köpfen beobachtet. Ich blicke hoch zur Büste von Fries. Wenn mir meine Körperhaltung bewusst wird, ärgert es mich, dass ich zu ihm, dem Verfasser der antijüdischen Hetzschrift, tatsächlich aufblicken muss. Sogar wenn ich mich von ihm abwende und mein Blick wieder nach vorn gerichtet ist, spüre ich den seinen immer noch auf mir. Mir fallen einige seiner martialisch wirkenden Formulierungen aus seinen Schriften ein. Zu ihm soll ich aufsehen? In mir breitet sich Unbehagen aus.

Johann Gottlieb Fichte
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Jakob Friedrich Fries

Über Antisemitismus

Interview

Joël Ben-Yehoshua

Interview mit Joël Ben-Yehoshua (RIAS Thüringen) zu Antisemitismus bei Fries und seiner Kontinuität sowie zu Antisemitismus allgemein.

IHRA-Arbeitsdefinition

Auf die Frage danach, was Antisemitismus ist, hat die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), eine internationale Organisation mit 34 Mitgliedsländern, 2016 die „Arbeitsdefinition für Antisemitismus“ beschlossen:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“[1]

Diese Definition ist von wichtigen Antisemitismusforscher:innen als „Minimalkonsens“ anerkannt worden, um Antisemitismus adäquat erfassen und bekämpfen zu können.[2] An ihre Definition anschließend liefert die IHRA auch konkrete Beispiele für Antisemitismus.

Beispiele für Antisemitismus

Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge. Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre, können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:
• Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
• Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
• Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden […].“[1]
Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass sich gegenwärtiger Antisemitismus häufig gegen den Staat Israel und gegen das Erinnern an die Shoah richtet. Für unsere konkrete Auseinandersetzung mit Fries ist dies aber weniger relevant.

In Zusammenarbeit mit der IHRA und dem Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus hat die Europäische Kommission 2021 ein Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus herausgegeben.

Zum Weiterlesen:
Dossiers und Aufsatzsammlungen zu Erscheinungsformen des Antisemitismus:
• Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.) (2021): Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt: Antisemitismus, Band 8, Jena.
• Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier zu Antisemitismus.
• Anders Denken: Dossier – Hintergrundwissen Antisemitismus.
• Salzborn, Samuel (Hg.) (2009): Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage, Gießen.
• APuZ 64, Nr. 28-30/2014, Thema: Antisemitismus.
• Antisemitismus.net: Zur Theorie des Antisemitismus.
Monitoring antisemitischer Vorfälle
Übersicht über Beratungsstellen für Betroffene antisemitischer Gewalt und Diskriminierung

Fries’ Hetzschrift

Mit diesen Worten fasst der jüdische Rechtswissenschaftler Sigmund Zimmern 1816 Jakob Friedrich Fries’ Polemik „Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ zusammen und charakterisiert sie damit als offen antisemitisch, ohne doch dieses Wort zu kennen und zu benutzen.[1] Bis heute ist unumstritten, dass dieses Pamphlet antisemitisch ist, sei dieser rassistisch oder religiös begründet. Fries nutzt zahlreiche Unterstellungen und Stereotype, die Jüdinnen:Juden abwerten sowie entmenschlicht darstellen. Zur Stützung seiner Aussagen bedient er sich antisemitischer Verschwörungsmythen. Als Konsequenz fordert er sogar die Vernichtung von Jüdinnen:Juden – darauf weist schließlich auch Zimmern hin, der sich persönlich angegriffen fühlen konnte. Dennoch gab und gibt es bis heute immer wieder Versuche, Fries’ antisemitische Aussagen zu verharmlosen. Sie werden entweder als persönlicher Fehltritt entschuldigt oder als Irrtum abgetan, die aufgrund der Bedeutung seines philosophischen Gesamtwerks vernachlässigt werden könnten.

„[Die Schrift] besteht […] aus 3 Theilen. Der eine zählt viele Seiten eines verdorbenen Charakters auf, und nennt dies Judenschaft. Der andere sucht zu beweisen, daß dessen Grund in der Religion und Verfassung der Juden liegt, und leitet daraus ihre Schädlichkeit für den Staat ab; und der dritte schlägt Mittel bald zur Zernichtung [d.i. Vernichtung; J.H.] der Judenschaft […], bald zur Zernichtung der Juden selbst vor.“

Zimmern, Sigmund (1816): Versuch einer Würdigung der Angriffe des Herrn Professor Fries auf die Juden. Heidelberg, S. 7f.

Über die Gefährdung..​.

Der Antisemitismusvorwurf wurde gegen Jakob Friedrich Fries insbesondere aufgrund seines Pamphlets Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“[1] erhoben. Dieses erschien zunächst als Rezension zu einer – ebenfalls antisemitischen – Veröffentlichung von Friedrich Rühs in den Heidelberger Jahrbüchern für Literatur, wurde aber bald auch als eigenständige Schrift veröffentlicht. In seinem Text geht Fries an einigen Punkten noch über die bereits äußerst problematischen Aussagen von Rühs hinaus. Aufgrund ihres Inhalts wurde die Schrift von der badischen Regierung konfisziert, war zu diesem Zeitpunkt aber schon in Umlauf gelangt. Sigmund Zimmern schrieb eine ausführliche Replik auf die Fries’sche Hetzschrift, in der er dessen Anschuldigungen die Stimme der Wahrheit“ [2] entgegensetzen wollte. Wie Zimmern feststellt, sind die Vorwürfe, die Fries erhebt, unbegründet und falsch:

Es möchte wohl mancher Leser, dem die Summe der uns gemachten Vorwürfe hier in ihrem ganzen Umfange vor Augen tritt, wirklich in seiner Unschuld vermeinen, einer teuflischen Bosheit [der Jüdinnen:Juden] stünde Engelsreinheit [der Christ:innen] gegenüber, während ein in dem Verfahren unserer Schriftsteller bewanderter und unparteyisch richtender das Gewebe leicht durchschaut. Ein Theil der uns [den Jüdinnen:Juden] gemachten Vorwürfe ist völlig falsch und unbegründet, ein Theil ist auf alle Classen und Stände, ein Theil wenigstens auf die gleichen christlichen Stände anwendbar; und was davon in höherem Maaße den Juden zur Last fällt, dessen Entstehung ist aus völlig unrichtigen Quellen erklärt.“[3]

Die Hetzschrift beruht auf Stereotypen und Unterstellungen [a]. Sie ist dabei etwa vom antisemitischen Verschwörungsmythos [b] geprägt, wonach Jüdinnen:Juden international vernetzt seien und die Macht über das Wirtschafts- und Finanzsystem inne hätten. Diese Macht würden sie dazu nutzen, sich selbst zu bereichern und dem deutschen Volk“ zu schaden [c]. Diese Anschuldigungen lassen sich durch nichts bestätigen oder bezeugen. Bei Fries findet sich zudem eine Unterteilung in produktives (unmittelbar Güter produzierendes) und unproduktives (Finanz- und Zins-) Kapital, die auch aus der ökonomischen Theorie von Marx bekannt ist. Allerdings identifiziert Fries unproduktives Kapital mit Jüdinnen:Juden [d]. Darin zeigt sich eine stark verkürzte und antisemitische Kapitalismuskritik – ein völkischer Antikapitalismus, wie er später etwa auch im Nationalsozialismus auftrat.[4]
Der Verschwörungsmythos geht bei Fries einher mit einer Sprache der Dehumanisierung“.[5] Diese äußert sich etwa darin, dass Fries Tier- und Pflanzenmetaphern [e] sowie Krankheits- bzw. Seuchenmetaphern [f] zur Bezeichnung von Jüdinnen:Juden nutzt. Eine solche Metaphorik kann nur als Entmenschlichung von Jüdinnen:Juden gelesen werden, die den Zweck hat, konkrete gegen sie gerichtete Forderungen und Vernichtungsvorstellungen besser durchsetzen zu können. Und diese Vernichtungsvorstellungen [g] formuliert Fries auch explizit. Sie sind teils gegen das Judentum als Religion [h], teils auch direkt gegen Jüdinnen:Juden als Menschen [i] gerichtet. Er fordert in seinem Text auch konkrete Maßnahmen [j] gegen Jüdinnen:Juden. Ähnliche antisemitische Aussagen [k] finden sich auch in den meisten anderen politischen Schriften von Fries.
Bereits zu den Lebzeiten von Fries gab es zahlreiche Gegenstimmen, die auch öffentlich gegen seine Äußerungen Wort ergriffen. Dabei fällt auf, dass Fries von verschiedenen Seiten geistige Brandstiftung vorgeworfen wurde: Er habe durch seine Veröffentlichungen zur Gewalt gegen Jüdinnen:Juden aufgerufen oder mindestens dazu beigetragen. Das betrifft vor allem die sog. Hep-Hep-Unruhen“ des Jahres 1819, die gemeinhin als die ersten antisemitischen Pogrome der Neuzeit“ gelten.[6] Diese Ausschreitungen begannen in Würzburg und breiteten sich schnell auch in andere Städte im Deutschen Bund aus. Betroffen von der Gewalt waren jüdische Menschen, ihr Eigentum sowie Synagogen.

Links zum Weiterlesen:
Regressiver und völkischer Antikapitalismus:
• TOP-Berlin (Hrsg.) (2007): Nationaler Sozialismus. Antikapitalismus“ von völkischen Freaks, Berlin.
• Seidel, Ingolf (2007): Antisemitismus in Deutschland.
• Postone, Moishe (1979): Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders. (2005): Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg: ça ira-Verlag, S. 165-194.
• Holler, Malte (o.J.): Ökonomiekritik und Antisemitismus. Personalisierung kapitalistischer Härten in der Figur ‚des Juden‘.
Hep-Hep-Pogrome:
• Geschichte.FM (2017): Die Hep-Hep-Unruhen von 1819.
• Lammert-Türk, Gunnar (2019): Hep-Hep-Unruhen vor 200 Jahren. Würzburger Juden: Erst gleichgestellt, dann vertrieben. In: Deutschlandfunk, 02.08.2019.

Alles nur halb so schlimm?

Rezeptionen im Fachdiskurs

Im philosophischen Fachdiskurs finden sich verschiedene Positionen zum Antisemitismus bei Fries und unterschiedliche Einschätzungen seiner philosophischen Bedeutung. Einige entschuldigen seine antisemitischen Äußerungen etwa damit, dass diese dem ‚Zeitgeist‘ entstammten oder dass Fries sie kritisch gegen den damals entstehenden Kapitalismus gerichtet habe. Andere betonen, seine Philosophie stünde in der Tradition Kants; Fries gehe daher ebenso wie Kant von der Unantastbarkeit der Würde sowie der Gleichheit aller Menschen aus. Andere Stimmen akzeptieren diese Einordnungen nicht als Gründe für Abschwächungen oder Entschuldigungen von Fries‘ Antisemitismus. Sollten all diese verschiedenen Stimmen in ein Gespräch gebracht werden? Unbedingt! Denn die Argumente, die diese Stimmen in Anspruch nehmen, weisen weit über Fries hinaus. Sie bilden Muster, auf die man immer wieder treffen kann, wenn es um die Frage der Verurteilung oder Rehabilitierung wichtiger Denker:innen geht und die Auseinandersetzung mit antisemitischen, rassistischen, sexistischen Äußerungen in ihren Briefen oder Schriften ansteht. Lassen wir die verschiedenen Stimmen in einen ‚Poly-log‘ treten!

1. Fries war nur ein Kind seiner Zeit!“

So lässt sich eines der prominentesten Argumente herunterbrechen, welches seine antisemitischen Aussagen im sogenannten „Geist seiner Zeit“ kontextualisiert.

„Wenn Fries in dieser Sache der vermeintlichen Empirie dem Historiker Rühs glaubte, so ist dies nicht gerade das Zeichen eines aufgeklärten Selbstdenkers, jedoch aus der Zeitsituation erklärbar. Dass die Empirie anders aussieht, als in den hier einbezogenen Schriften, haben wir heute nach mehr als 150 Jahren historischer Forschung auch zum Antisemitismusphänomen gelernt.“[1]

„Fries ist in der analysierten Schrift in den Fesseln des Zeitgeists befangen – wie Gert König es treffend formuliert hat – und die judenfeindliche Schrift hat ihren Beitrag zur Fortwirkung antisemitischer Vorurteile geliefert, insbesondere auch durch ihr Vokabular – diese traurige historische Rolle ist festzuhalten.“[2]

Aber gab es diese Fesseln oder einen wissenschaftlich feststellbaren Zeitgeist, einen Common Sense der Zeit? Dieser müsste schließlich stark genug sein, um selbst die fortschrittlichsten Denker einer Epoche zu fesseln. Bei näherer Betrachtung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zeigt sich ein anderes Bild. Der Historiker Klaus Jürgen Ries widerspricht dem Argument des Zeitgeistes vehement:

„[…]Fries war auch nicht gefangen in den Fesseln des Zeitgeistes, wie es in der Fries-Forschung, die historischen Realitäten völlig verkennend, fälschlicherweise heißt; denn der Zeitgeist stand seit der Französischen Revolution und ihren Wirkungen auf Deutschland […] ganz und gar auf Judenemanzipation, die Zeit des deutschen Vormärz war das Zeitalter der Judenemanzipation, und Fries stand exakt gegen diesen Zeitgeist, seine antijüdischen Position bedeutete vielmehr […] einen Rückfall in die Mentalität des Mittelalters.“[3]

Die Emanzipationsbewegung der Jüdinnen:Juden ist eine prägende geschichtliche Entwicklung dieser Zeit. Die Aussagen von Fries stellen sich bewusst gegen die jüdische Emanzipation. Dies zeigt sich auch in der Reaktion des jüdischen Pädagogen Michael Hess im Jahr 1816.

„Eine solche Schrift kann der verdienten Verachtung jedes guten Bürgers nicht entgehen. Wir wollen hoffen, daß die deutsche Literatur nicht wieder durch ähnliche Schriften befleckt werden wird. Die Juden aber sollen solche Schriften gar nicht als die Stimme des herrschenden Zeitgeistes ansehen, dies sind sie keineswegs […].“[4]

Der direkte Widerspruch vieler Jüdinnen:Juden in dieser Zeit spricht für die Emanzipationsbewegung: Die Möglichkeit, sich als Jüdinnen:Juden öffentlich gegen die Aussagen Fries zu stellen. Diese Stimmen und ihre Berücksichtigung widersprechen dem Argument, „Fries sei nur ein Kind seiner Zeit“. Die Konstruktion eines homogenen Zeitgeistes, von welchem antisemitische Aussagen abzuleiten wären, um deren Sprecher aus der Verantwortung zu nehmen, erweist sich als ahistorisch und unangemessen.

Mehr erfahren zur jüdischen Emanzipationsbewegung der Zeit: hier entlang.

2. Fries antisemitische Aussagen waren ein einmaliger Fehltritt

Verschiedene Philosoph:innen behaupten, die politischen Äußerungen von Fries seien unabhängig von oder gar unvereinbar mit seiner „eigentlichen“ philosophischen Theorie. Die antisemitischen Auffassungen werden als bedauerliche Entgleisungen angesehen und auch verurteilt. Grundsätzlich aber ließen sie sich von seinem philosophischen Werk trennen.

„Es ist deshalb zu widersprechen, wenn Fries von Daniel Goldhagen in einem Satz zusammen mit Eisenmenger zu den Stammvätern eines elimatorischen Antisemitismus in Deutschland gezählt wird. Demgegenüber ist zum einen an das Friessche Würdekonzept und an sein rechtliches Gleichheitsdenken zu erinnern, beides Grundpostulate seiner Lehre, von denen er an keiner Stelle abgewichen ist und auf die ja sogar in der judenfeindlichen Schrift verwiesen wird. […] An der Friesschen Flugschrift ist nichts zu beschönigen. Aber bei keinem der genannten Autoren – auch nicht bei Fichte – ist die adäquate Rezeption eines umfangreichen politischen Werks durch eine einzige Rezension so verhindert worden wie bei Fries, dessen denken bis in die Gegenwart hinein pauschal als antiaufklärerisch diffamiert wird.“[1]

„Dennoch ist festzustellen, daß 1. Die betreffende Rezension in keiner Weise aus dem übrigen Werk von Fries geschlossen werden kann. Im Gegenteil: Seine Ethik, mit dem höchsten Wert der Würde der Person schließt die Folgerungen, die immer wieder aus dieser Schrift, besonders von Fries‘ Gegnern gezogen worden sind, aus. Schon gar nicht können diese 24 Seiten pars pro toto als Fazit eines 25-bändigen Werkes gelten. 2. Der in der Schrift zum Ausdruck kommende Antisemitismus ist jedenfalls im Friesschen Falle nur aus der oben aufgezeigten historischen Entwicklung der Einigkeitsbestrebungen zu rekonstruieren.“[2]

„Fries’ Ausfälle gegen Juden stehen zu seiner Moralphilosophie im Kontrast, sind schwer zu erklären und lassen sich in keiner Weise verständlich machen“.[3]

Gibt es also eine Kluft zwischen der Moralphilosophie von Fries und seinen antisemitischen Äußerungen? Nicht nur die Deutlichkeit seiner 24-seitigen Hetzschrift, sondern auch die Abwertung von Jüdinnen:Juden in anderen Schriften lassen daran zweifeln. So zeigt Hessenauer in seiner Untersuchung der politischen Philosophie von Fries die Vereinbarkeit seines philosophisch-politischen Werkes mit Antisemitismus.

„Fries’ antisemitische Äußerungen und seine politische Philosophie lassen sich aber nicht nur problemlos miteinander vereinbaren, sondern sie resultieren vielmehr – anders als beispielsweise Gert König und Lutz Geldsetzer behaupten – direkt aus seiner Vorstellung von einer homogenen Volksgemeinschaft und deren vermeintlicher Bedrohung durch andere. Der Grundtenor von Fries’ politischen Schriften besteht stets darin, dass die homogene deutsche Volksgemeinschaft bedroht würde, sei dies auf kulturellem oder ökonomischem Gebiet, sei dies durch jüdische Menschen oder französische Lebensart. Auch in Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung äußert sich Fries immer wieder explizit antisemitisch. Eine Trennung zwischen seiner politischen Philosophie und seinen polemischen Äußerungen ist dementsprechend nicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen muss konstatiert werden, dass sich letztere ohne Weiteres aus den Prämissen seiner politischen Philosophie ableiten lassen.“ [4]

Diesen Zusammenhang beschreibt auch Daniel Jonah Goldhagen und sieht in den Worten Fries‘ die ideologischen Elemente des modernen Antisemitismus.

„Fries […] verfügte bereits über das Vokabular des modernen Antisemitismus, der die religiös geprägte Auffassung über die Juden durch eine gesellschaftlich und politisch bestimmte Betrachtungsweise ersetzt hatte und den minderwertigen sittlichen Charakter der Juden betonte. In Fries Augen waren die Juden eine Gruppe grundsätzlich amoralischer ‚Asozialer‘, darauf aus, die gesellschaftliche Ordnung zu untergraben und den Deutschen die Kontrolle über Deutschland zu entreißen. Er begriff die Juden nicht als religiöse Gruppe – obwohl er diese Dimension ihrer Identität anerkannte –, sondern in erster Linie als Nation und politische Gemeinschaft.“[5]

Die politische Philosophie von Fries bildet die Grundlage für seine antisemitischen Aussagen. Weder lässt sich begründet ein Bruch zwischen seiner Praktischen Philosophie und seinen antisemitischen Äußerungen behaupten, noch ist eine Trennung zwischen seinem philosophischen Werk und seinem politischen Wirken sinnvoll. Beides verdeckt die ideologisch wirksamen Zusammenhänge in seinem philosophischen Gesamtwerk. Eine verkürzte Rezeption der antisemitischen Äußerungen als Entgleisung birgt die Gefahr, die problematischen Implikationen seiner politischen Philosophie zu übersehen oder zu bagatellisieren und sie dadurch unvorsichtig weiterzutragen.

3. Fries war Kantianer, progressiver Aufklärer und verkannter Klassiker

Verschiedene Rezeptionslinien betonen die Leistungen von Fries als einflussreichem Aufklärer in der Tradition Kants und stellen diese in den Vordergrund. Zudem sei Fries als Liberaler ein progressiver Vordenker in seiner Zeit  und ein zu Unrecht vergessener Klassiker der Philosophiegeschichte.

„Schließlich ist Fries in ideengeschichtlicher Perspektive dem politischen Aufklärungsdenken zuzurechnen, da seine Rechtslehre klar dem politischen Liberalismus angehört. Denn versteht man den politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts nach der Definition von Lothar Gall, dessen Hauptziel die Durchsetzung eines repräsentativen Verfassungsstaates mit klar umrissenen, in einem Grundrechtskatalog negativ fixierten Eingriffsrechten in die individuellen und interindividuellen Beziehungen seiner Mitglieder war und das auf dem Menschenbild des in geistiger wie materieller Hinsicht frei und selbstverantwortlich handlungsfähigen Individuums basierte, dann ist das politische Denken von Fries hier vorbehaltlos zuzuordnen. Dies nicht nur aufgrund seines egalitären Rechtsbegriffs, sondern auch durch die Einforderung einer politisch partizipierenden Öffentlichkeit, samt ihrer Konstitutionsbedingungen wie Pressefreiheit, Publizität von Gesetzen etc.“[1]

„Immerhin ist seine praktische Philosophie, Ethik und Rechtsphilosophie durch die Neukantianer – meist unter der Hand – so total rezipiert worden, daß bei allen modernen Diskussionen um Verfassungsprinzipien und insbesondere um die Menschenrechte keiner mehr weiß, daß die Würde des Menschen als materielle Ausfüllung des kategorischen Imperativs, die ja heute in den Verfassungen der meisten Staaten der Welt steht, auf Fries zurückgeht. Seine Religionsphilosophie ist durch die aufgeklärten protestantischen Theologen mindestens ebenso total rezipiert worden, so daß auch die gottlosesten Entmythologisierer unter den Theologen sie immer noch als ein apriorisches Fundament für eine geisteswissenschaftliche Theologie benutzt haben.“[2]

„Alles in allem genommen, hat uns die Philosophiegeschichte von Fries ein Bild gezeichnet, das ihn als Klassiker unter unseren philosophischen Klassikern ausweist. Einige Züge an diesem Bild waren und sind noch verzerrt, einige auch noch undeutlich. Und da gilt es denn genauer hinzusehen.“[3]

Die zitierten Autoren betonen die Relevanz des philosophischen Werkes von Fries, aufgrund dessen er als „Kantianer“, „Klassiker“ oder gar „fortschrittlicher Denker“ gelten könne. Diese Einordnungen aber sind umstritten. Joël Ben-Yehoshua verweist beispielsweise auf die deutlichen Differenzen zwischen der praktischen Philosophie Fries’ und Kants:

„Fries, der sich selbst in der Tradition Kants verortet, was in der Sekundärliteratur oft unkritisch affirmiert wird, übernimmt dem Namen nach eine Vielzahl von Grundbegriffen der praktischen Philosophie Kants, etwa die Begriffe Würde, Gleichheit und Freiheit. Die Betonung dieser Begriffe klingt liberal und für das frühe 19. Jahrhundert womöglich sogar fortschrittlich. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt, und dass die Begriffe liberal klingen und Kants Denken entlehnt sind, heißt nicht, dass sie in ihrer Konsequenz so liberal sind, wie sie es bei Kant sein mögen: Der Sache nach gibt es zwischen Fries’ und Kants praktischer Philosophie nämlich fundamentale Differenzen[4].

Klassifizierungen wie „Kantianer“ und „Fortschrittsdenker“ beruhen auf Konstruktionen und Konventionen. Sie erwecken den Anschein eines objektiven Faktums und verdecken damit die Gemachtheit dieser Klassifizierungen. Sie dienen dazu, Fries im Namen seiner philosophischen Leistungen auf einen Sockel zu heben. Diese „Monumentalisierungsprozesse“ erlauben es dann, antisemitische Äußerungen entweder in den Schatten zu stellen oder vor dem Hintergrund philosophischer Leistungen zu entschuldigen. 

Wie die nähere Betrachtung der Philosophie Fries’ zeigt, beruhen Fries‘ antisemitische Äußerungen auf Grundannahmen seiner politischen Philosophie. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, die Wirkung von Fries und seiner Philosophie in seiner Zeit kritisch zu untersuchen. 

Die jüdische Schriftstellerin Rahel Varnhagen ordnete bereits zu Fries’ Lebzeiten seine Aussagen in einen größeren Zusammenhang ein und zieht unter anderem Verbindungslinien zu den „Hep-Hep“ Unruhen.

„Am Ende des August ereignete sich in Deutschland eine Bewegung, die dem Ruhme des deutschen Volks, gutmütig und gesittet und des besten Geistes zu sein, häßliche Flekken anwarf, aber in ihm auch einen innern Zusammenhang, eine gemeinsame Empfänglichkeit für Anreizungen und Gefühle zeigte, die in solchem Grade bisher nicht vermutet worden war. In einer mittlern Stadt, ich weiß nicht mehr in welcher, entstand plötzlich ohne besondere Veranlassung ein wildes Geschrei gegen die Juden. Mit dem wilden Zuruf »Hep, Hep!« wurden die einzelnen auf der Straße angegriffen und verfolgt, ihre Wohnungen bestürmt und teilweise geplündert, Beschimpfungen und Gewalttaten aller Art gegen sie verübt; indes kein Blut vergossen; hier war die Grenze des Mutes oder der Bosheit der Übeltäter. Die gleisnerische Neu-Liebe zur christlichen Religion (Gott verzeihe mir meine Sünde!), zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dichtungen und Greueln hetzen das Volk zu dem einzigen Greuel, zu dem es sich noch, an alte Erlaubnisse erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm. Die Insinuationen, die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen; die Professoren Fries und Rühs und wie sie heißen, Arnim, Brentano, »Unser Verkehr« und noch höhere Personen mit Vorurteilen. Es ist nicht Religionshaß: sie lieben ihre nicht, wie wollten sie andere hassen; wozu die Worte, die ich ohne Ende häufen kann; es ist lauter Schlechtes; in Tat und Motiv; und nicht die Tat des Volks; dem man »Hep« schreien lehrte.[5]

Am Ende wirft dies die grundsätzliche Frage nach einer kritischen Rezeptionspraxis auf. Wie könnte ein adäquater Umgang mit dem Werk eines Autors aussehen, welcher bereits zu seiner Zeit von Jüdinnen:Juden als geistiger Brandstifter und Hetzer, somit Unterstützer antisemitischer Unruhen wahrgenommen wurde? Und wie kann der Umgang mit solchen oder ähnlichen Passagen in Werken der Philosophie aussehen?

Zeitgeist

Ausgrenzung oder Emanzipation von Jüdinnen:Juden?

Der Beginn des 19. Jahrhunderts war eine Zeit großer Umwälzungen und Konflikte zwischen der alten Ordnung und nationalistischen, gesamtdeutschen Kräften. Jüdische Emanzipationsbestrebungen konnten erstmals in vielen Staaten des Deutschen Bundes Erfolge zeitigen, teilweise wurde eine formell rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Gleichstellung erreicht, wenngleich diese Gegenstand breiter Debatten und stark umkämpft war. Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach beispielsweise, zu welchem Jena zu Zeiten Fries’ gehörte, wurde 1823 die sogenannte Judenordnung“ zur Gleichstellung von Juden erlassen. Der Jenaer Stadtrat wehrte sich allerdings bis 1850, gestützt auf die Innungen und die hiesige Kaufmannschaft […] gegen jedwede jüdische Niederlassung und Wirtschaftstätigkeit innerhalb der Stadt“.[1]

Zum Weiterlesen:
Battenberg, Friedrich (2010): Judenemanzipation im 18. und 19. Jahrhundert. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz.

Die politische Philosophie von Fries

Auf den ersten Blick scheinen wichtige Grundsätze von Fries’ praktischer und politischer Philosophie seinen antisemitischen Aussagen grundlegend zu widersprechen. So beruht bspw. seine Gerechtigkeitskonzeption auf der Idee universeller Menschengleichheit und -würde. Als Grundprinzip für menschliches Zusammenleben solle gelten, dass ein jeder den andern als Seinesgleichen behandel[t].“[1] Dennoch ist Fries der Ansicht, dass sich der Grad der Geistesbildung sowie biologische Eigenschaften zwischen verschiedenen Völkern unterscheiden würden. Unter Volk“ versteht er dabei eine – weitestgehend – homogene Einheit von Menschen, die sich durch gleiche Abstammung, Einheit der Sprache, der Sitten, Gebräuche und Gesetze“[2] auszeichnet.

Die Selbstständigkeit eines solchen Volkes soll ihm zufolge durch souveräne staatliche Institutionen gewährleistet werden. Sie ist für Fries der Hauptzweck eines Staates, dem sich alle anderen Zwecke und Interessen unterzuordnen haben. Die Selbstständigkeit ist dabei immer gegen das feindliche Ausland gerichtet. Hier zeigt sich Fries’ tiefe Abneigung gegen Frankreich, das er immer wieder explizit als Feind erwähnt. Falls es zum Krieg komme, müssten alle anderen Interessen und Werte – auch die bürgerliche Freiheit – hinter die Verteidigung der Sicherheit und der eigenen Kultur vor fremdem Einfluss zurücktreten. Das Individuum habe sich der staatlichen Gemeinschaft unterzuordnen und solle dazu bereit sein, dafür Gut und Blut“ zu opfern. Diese Gemeinschaft ist für Fries durch die Dichotomie von Eingeborenen“ und Fremden“ charakterisiert. Letztere hätten kein Recht darauf, sich im Staatsgebiet anzusiedeln. Wenn ihnen dies trotzdem erlaubt werde, könnten sie nur durch ihre vollständige Assimilation gleichberechtigter Teil des Volkes werden. Auch Jüdinnen:Juden hält Fries für angesiedelte Fremde“.[3]

Letztlich führt die Forderung nach Selbstständigkeit der Völker dazu, dass Gleichheit für Fries in erster Linie nicht allgemeine Menschengleichheit, sondern Gleichheit im Volk beziehungsweise im Staat bedeutet. Damit meint er keineswegs nur rechtliche und – bis zu einem gewissen Grad – ökonomische Gleichstellung, sondern eine biologische und kulturelle Homogenität: gleiche Abstammung und gleichförmige“ körperlich, sittliche, religiöse Erziehung und Bildung.[4] Er macht hier einen essentialistischen Volksbegriff stark. Die „Volksgemeinschaft“ ist für Fries dabei dem Individuum stets übergeordnet. Die Gewährleistung ihrer Selbstständigkeit und ihr Gemeingeist“ (das allgemeine Wohl) hätten gegenüber individuellen Rechten stets den Vorrang. Von dieser Volksgemeinschaft werden Fremde“ ausgeschlossen, die für Fries nicht zum Volk gehören oder sich nicht vollkommen an die christliche Kultur assimilieren. Fries argumentiert folglich völkisch-national. An seine Gedanken können antisemitische und rassistische Äußerungen problemlos als Ablehnung der Anderen, die die Volksgemeinschaft vermeintlich bedrohen, anknüpfen.

Der Forderung nach Selbstständigkeit nachgeordnet, soll ein Staat, so Fries, zudem für Gerechtigkeit, Bildung und Wohlstand sorgen. So fordert er beispielsweise, dass der Staat armen Menschen helfen müsse. Als Ursachen für diese Armut wiederum macht er insbesondere den profitorientierten Auslands- und Finanzhandel einzelner Kapitalisten aus, die damit der Gemeinschaft schaden würden. Mit diesen Kapitalisten meint er in erster Linie Jüdinnen:Juden. An der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb des Staates und an großen Vermögen, die langsam gewachsen sind, übt er hingegen kaum beziehungsweise gar keine Kritik. Hierin zeigt sich eine stark verkürzte Kapitalismuskritik – ein völkischer Antikapitalismus. Da Fries Jüdinnen:Juden direkt mit dem negativ konnotierten Auslands- und Finanzhandel identifiziert, ist die Vereinbarkeit seiner ökonomischen Theorie mit seinem Antisemitismus offensichtlich.

Fries’ antisemitische Äußerungen und seine politische Philosophie lassen sich folglich nicht nur problemlos miteinander vereinbaren, sondern erstere resultieren direkt aus seiner Vorstellung von einer homogenen Volksgemeinschaft und deren vermeintlicher Bedrohung durch andere. Wenig überraschend ist der Grundtenor von Fries’ politischen Schriften dementsprechend stets, dass die homogene deutsche Volksgemeinschaft bedroht sei; sei es auf kulturellem oder ökonomischem Gebiet, sei es durch jüdische Menschen oder französische Lebensart. Eine einfache oder klare Trennung zwischen seiner politischen Philosophie und seinen polemischen Äußerungen ist nicht aufrechtzuerhalten. Ähnliches gilt für seine Moral- und Religionsphilosophie.

Fries und die Burschenschaften

Fries und die frühen Burschenschaften standen in einem engen Verhältnis zueinander. Der Historiker Klaus Jürgen Ries stellt sogar fest, dass Fries im Vergleich zu den anderen politischen Professoren (u.a. Heinrich Luden, Lorenz Oken) an der Universität Jena Anfang des 19. Jahrhunderts unter der Jenaer Burschenschaft den stärksten Zulauf“ hatte.[1] Die Burschenschaftler nannten ihn mitunter sogar „Vater Fries“.[2] Mit zahlreichen Schriften nahm er direkten inhaltlichen Einfluss auf die frühen Burschenschaften, sei es beispielsweise durch die beiden – schnell zu Klassikern“ innerhalb der Burschenschaftsbewegung avancierten – Werke Handbuch der praktischen Philosophie und Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung, das er Deutschlands Jünglinge[n]“[3] widmete. Seine politische Wirksamkeit beschränkte sich aber nicht nur auf seine Schriften, sondern umfasste auch persönliche Auftritte bei Veranstaltungen der Burschenschaften. So nahm er beispielsweise im Jahr 1817 am Wartburgfest teil und schrieb für diesen Anlass sogar eigens eine Rede, die auf Flugblättern verteilt und verlesen wurde. Diese Rede lasse sich, so der Historiker Ries, als indirekte[r] Aufruf zur Bücherverbrennung“[4] verstehen. Bei der Bücherverbrennung während des Wartburgfestes wurden u.a. auch das Buch Germanomanie des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher sowie August von Kotzebues Geschichte des deutschen Reichs symbolisch in die Flammen geworfen.
1819 wurde Fries, aufgrund seiner Teilnahme am Wartburgfest und weil sein Schüler und Burschenschaftler Karl Ludwig Sand den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August von Kotzebue ermordet hatte, die Lehrerlaubnis für Philosophie entzogen.
Auch heute noch wird vonseiten der deutschsprachigen Burschenschaftsbewegung positiv auf Fries und seine Werke Bezug genommen. So wird er etwa auf zahlreichen Internetauftritten als wichtiger Wegbereiter oder Förderer der Burschenschaftsbewegung aufgeführt und auch auf seine politische Philosophie wird zustimmend Bezug genommen.[5]

Zur Kritik von Burschenschaften:
• Asta Uni Frankfurt (Hrsg.) (2017): Autoritär. Elitär. Reaktionär. Reader zur Verbindungskritik.
• Heither, Dietrich (2011): Stramm rechts: Die Deutsche Burschenschaft, in: Blätter, 10/2011, S. 111–119.

Keine Aktion ist auch keine Lösung?

Denkmäler sollen Personen oder Ereignisse in Erinnerung rufen. Aber seit es sie gibt, werden sie auch gestürzt, beschädigt, geraubt oder vernichtet. Schon in der Antike wurden sie als Symbole erkannt, in denen sich Herrschafts- und Machtansprüche manifestieren. Sogenannte Denkmalstürze sind ein fester Bestandteil politischer Kämpfe.

Freilich kann man umstrittene Denkmäler auch verfallen lassen, kann sie um- oder entwidmen oder in Museen ausstellen. Man kann sie durch ein Gegendenkmal relativieren oder ihre Bestandteile zu anderen Zwecken verwenden. Jeder dieser Akte verändert die Bedeutung eines Denkmals und ist deshalb immer auch potentiell destruktiv und gewaltsam.

Gleichwohl kann sogar der radikalste Denkmalsturz Vergangenes nicht ungeschehen machen. Vielmehr schafft er selbst gewissermaßen ein neues Denkmal, das dann, zumindest indirekt, auf das Zerstörte und seine Geschichte verweist. Denkmalbau und Denkmalsturz beziehen sich aus einer bestimmten Gegenwart heraus auf die Geschichte; sie sind aber auch selbst Ereignisse und treten als solche in die Geschichte ein. Indem sie Machtansprüche oder deren Anfechtung darstellen, formen sie unser Bild und unsere Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse – auch dann, wenn wir ihre An- oder Abwesenheit für selbstverständlich halten oder sie uns nicht bewusst ist.

Auch die Fries-Büste ist nicht ‚nur eine Büste‘. Sie ist eine Stellungnahme mit einer inhaltlichen Aussage innerhalb unserer Erinnerungskultur. Bleibt sie stehen, lautet die Botschaft: An J. F. Fries soll weiterhin erinnert, seine Person soll weiterhin in Ehren gehalten werden. Was auch immer wir nun tun oder unterlassen – ob wir die Büste abbauen, verändern, zerstören: immer greifen wir damit auch inhaltlich in unsere Erinnerungskultur ein und gestalten sie aktiv mit. Das ist auch dann der Fall, wenn wir die Büste lassen, wo und wie sie ist, und meinen, uns damit ‚neutral‘ zu verhalten oder gar nicht zu handeln. Doch auch dann nehmen wir zu der Büste Stellung und schreiben damit eine bestimmte Tradition fort – ob wir das wollen oder nicht.

Foto: Anne Günther/Universität Jena

Interview

Lambert Wiesing

Prof. Dr. Lambert Wiesing ist seit 2008 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Bildtheorie und Phänomenologie an der FSU Jena. Im Interview erläutert er seine Meinung zur Verhüllung der Büste und schlägt vor, wie künftig mit ihr umgegangen werden könnte.

Zurück auf Los!“…?

Ist es nicht langsam Zeit, die Büste wieder zu enthüllen?

Sollten wir nicht wieder zum Normalzustand“ zurückkehren? Eine kritische Auseinandersetzung hat schließlich stattgefunden und ist öffentlich dokumentiert – alle, die es interessiert, können sich umfassend über den Casus J.F. Fries“ informieren. Genügt das nicht?

Doch so einfach ist es nicht! Schon der Akt der Enthüllung birgt ein Dilemma: Er verweist auf den feierlichen Akt im Jahr 2000 und könnte als Wieder-Einsetzung der Ehrung von J.F. Fries gedeutet werden. Und nach der Enthüllung entfaltet die Büste wieder, wie vorher, ihre ästhetische Wirkung und ehrt J.F. Fries weiterhin – aller vorangegangenen kritischen Auseinandersetzung zum Trotz. Würde ein Akt der Enthüllung nicht die Aussage vermitteln: Wir wissen um die Probleme und schauen trotzdem zu ihm auf“?

Alles eine Frage der Aufklärung?

Reicht eine entsprechende Hinweistafel unter der Büste nicht aus, um an Ort und Stelle kritisch auf die problematischen Hintergründe hinzuweisen?
Hinweistafeln informieren über Leben und Wirken von Personen, die mit Büsten und Denkmälern bedacht wurden. Sie geben Hintergrundinformationen über Intentionen und Kontext der Aufstellung, manchmal auch über die Geschichte des Objektes selbst. Die Informationen können dabei auch auf problematische Aspekte des Werkes und des Wirkens der dargestellten Person aufmerksam machen – und im Falle der Fries-Büste auch seinen Antijudaismus und Antisemitismus thematisieren. Vielleicht würde die Hinweistafel sogar eine Spannung zu der ehrenden Wirkung der Büste erzeugen können.
Aber wer liest solche Texte tatsächlich? Können Texte dem unmittelbaren Eindruck, der von der Büste ausgeht, überhaupt etwas entgegensetzen? Könnten Hinweistafeln nicht auch wie ein Feigenblatt oder ein Alibi wirken?

Aus den Augen, aus dem Sinn?

Wenn Fries ein Antisemit war: dann weg mit der Büste!
Zeugt es nicht von Problembewusstsein und kritischem Geschichtsbewusstsein, wenn man die Büste einfach entfernt? Denkmäler und Büsten abzubauen oder zu stürzen, hat eine lange Tradition. Darin formiert sich oft auch ein Widerstand gegen das damit verbundene Erbe oder den damit erhobenen Herrschaftsanspruch. In diese Tradition könnte man sich stellen, die Fries-Büste entfernen oder ins Universitätsarchiv räumen. Auf diese Weise würde man sich gegen die öffentliche Ehrung einer Person stellen, die antisemitische Schriften verfasst hat.
Aber tilgen wir damit nicht gerade die problematischen Abschnitte unserer Geschichte aus der öffentlichen Erinnerung? Erzeugt dies nicht den Schein einer „sauberen“ Geschichte? Bereinigten wir dadurch nicht die Erinnerung, statt uns kritisch mit ihr auseinanderzusetzen? Immerhin stand die Büste über zwanzig Jahre weitgehend unhinterfragt in den Räumlichkeiten des Instituts für Philosophie.

Die_der Nächste, bitte!

Der problematische Fries wird entfernt und statt seiner eine würdige Person eingesetzt!
Zum Beispiel: Friedrich Schiller? Oder noch besser: eine Person, die einer historisch und gesellschaftlich marginalisierten Gruppe angehört, um dieser dadurch Sichtbarkeit zu verschaffen: Beispielsweise die jüdische Denkerin Rahel Varnhagen von Ense, die auch Fries kritisierte, oder Anton Wilhelm Amo, der erste promovierte Philosoph aus Afrika in Europa.
Eine Diversifizierung der Menschen, an die wir mit Denkmälern erinnern, ist sicher sinnvoll und könnte unseren Blick auf die Geschichte verändern. Aber besteht nicht die Gefahr, dadurch eine umstrittene Tradition und ein weiterhin umkämpftes Erbe zu glätten? Zwingt uns ein Büsten-Wechsel“ dazu, die eigene Geschichte und die eigenen Verstrickungen kritisch zu reflektieren? Oder kann er nicht zum Akt der Selbstberuhigung werden, der unliebsame Erinnerungen tilgt und Vielfalt abbildet, wo Ausschlüsse herrschten (und weiterhin wirksam sind)? Und: Schreiben wir damit nicht unter der Hand auch die verkürzende, nur auf große Individuen“ zentrierte Philosophiegeschichte unkritisch fort?

Übergieß’ den Fries!

Sprayen, Taggen, Plakatieren!
Müsste der Widerstand gegen den Fries’schen Antisemitismus nicht in der Form von Gegengewalt auftreten? Als produktive Irritation durch sichtbare Beschädigung oder Zerstörung?
Die Fries-Büste wurde zwischenzeitlich tatsächlich von Unbekannten zumindest mit einem Aufkleber versehen. Solche Interventionen erregen Aufmerksamkeit und können einen kritischen Diskurs anstoßen. Aber nicht alle sind gewillt, in intervenierenden Aktionen mehr als nur Vandalismus zu sehen. Gegengewalt führt dann weg vom eigentlichen Problem und bringt keine produktive Auseinandersetzung in Gang.
Und: Wer ist eigentlich autorisiert, auf diese Weise zu intervenieren? Nimmt eine solche Intervention nicht für sich eine überlegene Position in Anspruch, eine, die es besser weiß? Wird sie nicht leicht zu einer anklagenden Geste? Einer Geste, die vorweg ausschließt, dass die Anklage auch die Intervenierenden selbst treffen könnte – und damit Selbstgerechtigkeit statt (Selbst-) Kritik befördert?

Fries und Gegen-Fries?

Ein Gegendenkmal muss her – konfrontieren wir die Fries-Büste vor Ort mit einer Gegenposition!
Ein Gegendenkmal setzt die Büste in einen veränderten Kontext.
Gegendenkmäler problematisieren und kontrastieren das bestehende Denkmal, und sie wirken der üblichen Vorstellung eines bruchlosen linearen Geschichtsverlaufs entgegen. Dadurch können Stimmen sichtbar werden, die bislang nicht gehört wurden und schon dadurch kann eine kritische Reflexion in Gang kommen. Wie wär’s mit einer Büste seiner Kritikerin Rahel Varnhagen von Ense – zu Fries in Position gebracht, so dass sie einander von Angesicht zu Angesicht stehen?
Aber: Wird damit nicht eine personenzentrierte Erinnerungskultur fortgeschrieben? Sollte man der Fries-Büste nicht besser eine nicht-personale Installation entgegensetzen? Eine, die auch die Kontinuität des Antisemitismus zeigt? Wie könnte sie aussehen? Und könnte sie auch die ästhetische Wirkung der Fries-Büste durchbrechen?

Verpacken und verstecken?

So lange unklar ist, was mit der Büste geschehen soll – lasst sie verhüllt! Eine Verhüllung rückt die Büste aus dem unmittelbaren Blickfeld und macht damit sichtbar, dass mit ihr etwas nicht stimmt. So kann gezeigt werden: die Auseinandersetzung mit ihr ist im Prozess. Eine Verhüllung ist häufig zeitlich begrenzt und schließt andere Interventionen nicht aus. Die Fries-Büste bleibt solange verhüllt, bis entschieden ist, wie es mit ihr weitergehen soll. Die Verhüllung spielt auf die feierliche Enthüllung der Büste im Jahr 2000 an. Aber ist sie das richtige Mittel, um auf die Tradition und die Gegenwart des Antisemitismus aufmerksam zu machen? Wie kann sie gedeutet werden? Hier wird restauriert?“, Wir schämen uns?“, Hier will mir jemand vorschreiben, was ich anschauen soll und was ich denken soll?“. Oder die Verhüllung ruft – gegen die Intention – Assoziationen wach, die mit dem Casus J.F. Fries“ gar nichts zu tun haben: religiöse Verhüllungen, künstlerische Darstellungen des 20. Jahrhunderts[1] – oder gar politisch motivierte Denkmalverhüllungen im Austrofaschismus.[2]

Ausschreibung

Open Call zur Umgestaltung der Porträtbüste von J.F. Fries

Förderpartner

Umsetzungspartner

Autor:innen

Seminarleitung: Andrea M. Esser & Peggy H. Breitenstein

Fiona Daffner
Nell Junkel
Miriam Pfeiffer

Danilo Gajic
Max Leurle
Margarete Puhl

Jonas Hessenauer
Ramona Mayer
Hannah Wiese

Judith Hilz
Christian Nöth
Robin Zurwieden

Jakob Friedrich Fries (23.08.1773 – 10.08.1843) war 1805 und 1816-1843 Professor für Philosophie an der Universität Jena und verstand sich „zeitlebens als der einzige legitime Interpret und Nachfolger von Kant“ [1] und als Kritiker des spekulativen Idealismus, wozu in seinen Augen v.a. Fichte, Schelling und Hegel zählten. [2] 1819 wurde er – mit der Begründung, er sei in den Mord an Kotzebue verwickelt – vom Dienst suspendiert. Das Lehrverbot für Philosophie wurde erst 1837 wieder aufgehoben. [3]
Fries gilt als Ideengeber für die Gründung der Urburschenschaft 1815 in Jena. Aufgrund seiner Polemik bzw. Hetzschrift „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ (1816) gilt er als Ideengeber und Vertreter des neuzeitlichen Antisemitismus. [4]

[1] Steiger, Günther (1989): „Ich würde doch nach Jena gehen.“ Geschichte und Geschichten, Bilder und Denkmale und Dokumente aus vier Jahrhunderten Universität Jena.Weimar: Böhlau, S. 164.
[2] Mourelatos, Alexander P. D.: Fries, Jakob Friedrich (1773–1843). In: Encyclopedia of Philosophy. URL: https://www.encyclopedia.com/humanities/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/fries-jakob-friedrich-1773-1843.
[3] Gäbe, Lüder (1961): Fries, Jakob. In: Neue Deutsche Biographie 5, S. 608-609. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11853601X.html#ndbcontent.
[4] Weigel, Björn (2009): Fries, Jakob Friedrich. In: Handbuch des Antisemitismus, Band 2/1, S. 256f.

Stridde, Thomas (2019): Vom Wandel des Judenhasses. Sollen Friesweg und Hans-Berger-Straße umbenannt werden? – der Stadtrat stößt Diskussion an, in: Ostthüringer Zeitung vom 4.04.2019, S. 14.

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Maurer, Michael (2007): Aufbau einer Denkmallandschaft. Die Jenaer „via triumphalis“ am Fürstengraben, in: John, Jürgen / Ulbricht, Justus H. (Hg.): JENA. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 245-258, hier S. 257.

Hogrebe, Wolfram (1999): Vorwort. In: Wolfram Hogrebe/Kay Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries – Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker. Frankfurt am Main: Lang, S. 7-11, hier S. 7.

Hirsch, Wolfgang (1997): Bericht: Jakob Friedrich Fries-Tagung, Informationsdienst Wissenschaft (idw) vom 13.10.1997. URL: https://idw-online.de/de/news1580.

Fries, Jacob Friedrich (1967ff.): Sämtliche Schriften. Nach den Ausgaben letzter Hand zusammengestellt, eingeleitet und mit einem Fries-Lexikon versehen von Gert König und Lutz Geldsetzer. 33 Bde. Aalen: Scientia.

Maurer, Michael (2007): Aufbau einer Denkmallandschaft. Die Jenaer „via triumphalis“ am Fürstengraben, in: John, Jürgen / Ulbricht, Justus H. (Hg.): JENA. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 245-258, S. 247f.

Maurer, Michael (2007): Aufbau einer Denkmallandschaft. Die Jenaer „via triumphalis“ am Fürstengraben, in: John, Jürgen / Ulbricht, Justus H. (Hg.): JENA. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 245-258, S. 251.

Steiger, Günther (1989): „Ich würde doch nach Jena gehen.“ Geschichte und Geschichten, Bilder und Denkmale und Dokumente aus vier Jahrhunderten Universität Jena. Weimar: Böhlau, S. 165.

Restauration: Abgeleitet von lat. restaurare, wiederherstellen, bezeichnet dieser geschichtswissenschaftliche Fachbegriff allgemein die Wiederherstellung eines politischen Zustands, der bereits – z.B. durch eine Revolution oder den Sturz einer Regierung oder einer Dynastie – überwunden wurde. Bezogen auf die deutschsprachigen Staaten wird v.a. die Zeit des Vormärz nach dem Wiener Kongress (1815-1830) sowie die Zeit nach 1848 ‚Restaurationszeit‘ genannt.

„Ich nenne die Verbindung der Vorstellung mit dem Lautbild das Zeichen. Ich schlage vor, daß man das Wort Zeichen beibehält für das Ganze, und Vorstellung bzw. Lautbild durch Bezeichnetes und Bezeichnung (Bezeichnendes) ersetzt.“ Saussure, Ferdinand de (2001): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Charles Bally, Albert Sechehaye (Hg.), Berlin/ New York: De Gruyter, S. 78.

Peirce, Charles S. (1993): Phänomen und Logik der Zeichen, Helmut Pape (Hg.), Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. ???

Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck, S. 33.

Assmann, Aleida (2016): Formen des Vergessens. Göttingen: Wallerstein.

Assmann, Aleida (2020): Erinnerung, Identität, Emotionen: die Nation neu denken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 65(3), S. 73 – 86, hier. S. 79.

Vgl. bspw. Salzborn, Samuel (2019): Antisemitismus nach dem Halle-Anschlag: War da was?, in: taz vom 05.12.2019. URL: https://taz.de/Antisemitismus-nach-dem-Halle-Anschlag/!5642816/.

Der Ausdruck „Antisemitismus“ wurde ab Ende der 1870er Jahre benutzt und diente zunächst als Selbstbezeichnung von Menschen, v.a. Publizisten, die ihrer Feindschaft gegenüber Jüdinnen:Juden „aus propagandistischen Gründen einen wissenschaftlichen Charakter geben wollten.“ Pfahl-Traughber, Armin (2017): Antisemitismus. Definition und Gefahrenpotential. In: Bozay, K./ Borstel, D. (Hg.): Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer, S. 82-102, hier S.84.

Christian Friedrich Rühs (1781-1820) war Professor für Geschichte zunächst in Greifswald, dann in Berlin, und wurde aufgrund seiner antijüdischen Schriften „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht“ (1815) sowie „Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks“ (1816) als radikaler Gegner der jüdischen Emanzipation bekannt. Im Anschluss z.B. an Johann Gottlieb Fichte behauptete er, Juden seien ein fremdes Volk, das nur durch Konversion bestimmte Wesenszüge abgelegen und sich schließlich schrittweise assimilieren könne.

Weiterführend: Weigel, Björn (2009): Rühs, Christian Friedrich. In: Handbuch des Antisemitismus, Band 2/2, S. 702-704.

„Sie haben durch Privatbereicherungen aus öffentlichen Lieferungen unsern Völkern das Mark ausgesogen und die Heere darben lassen. Sie verbreiten Betrügerey im Handel, Armseligkeit durch Schuldenwesen, Bestechlichkeit und Unrechtlichkeit aller Art durch unser ganzes Volk. Denn von den Juden kommt das betrügerische Ueberbieten im Handel, die falsche Warenbezeichnung und Werthangabe, der Erndtevorkauf, die Verbreitung der Lotterien und tausendähnliches, was den Verkehr unrechtlich und den Vermögenszustand unsicher macht. Kein Jude verräth einen Betrüger, der sich an ihn wendet, wenn er ihn auch abweist.“ (17f.)

„Was kann verderblicher seyn als eine Gesellschaft, welche ein an sich so gefährliches Gewerbe treibt, nun noch über die ganze Erde eng verschworen durch innere erbliche Verbindung, durch politisch geordnete und auf eigne Religion gegründete Verfassung bey einem durch die Religion vorgeschriebenen Haß gegen die Fremden und Aufhebung aller Gesetze des Rechtes und der Sittlichkeit gegen sie?“ (S. 18)

„Und bey alle diesem Einfluß, Macht, Reichthum, Freyheit waren und sind sie die Blutsauger des Volks, vor denen kein Zweig der Betriebsamkeit emporkommen kann, bleiben selbst auf der niedrigsten Stufe der Kultur und verbreiten Schmutz und Rohheit um sich her.“ (S. 5)

„Hier sieht man noch deutlicher, wie sie durch alle Rechte und Vortheile, die man ihnen läßt, nur in ihrer Arbeitscheu und blinden Geldgier bestärkt werden, und wie einem kräftigen Volk, dessen sämmtliche Capitale sie endlich durch Finanzverwaltung und Schacherverhalten-Künste in ihre Hände gebracht hatten, zur Gewaltthat gezwungen wird, um sich ganz von ihnen zu befreyen.“ (S. 5)

„Für das übrige Volk ist nun aber diese Kaste die schädlichste von allen, denn sie lebt ohne eigne Mühe von fremder Arbeit, gibt weder materiell, noch geistig eine productive Arbeit, schmiegt sich also nur als Schmarotzerpflanze oder Blutsauger an ein fremdes Leben an und entkräftet dieses.“ (S. 16)

„Man verwechselt einen abstracten allgemeinen Ausdruck mit der Wirklichkeit des Einzelnen. So sind hier die Juden mit der Judenschaft, dem Judenthum verwechselt worden. Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. Wer den Pestkranken liebt, muß der nicht wünschen, daß er von der Pest befreyt werde? Und schmäht der den Pestkranken, der über die Schrecken der Pest klagt und räth, wie man sie vertreibe? Die Judenschaft ist ein Überbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll. Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören. Judenschaft ist eine Völkerkrankheit, welche sich in Menge erzeugt und an Macht gewinnt durch Geld […].“ (S. 10)

„Aus dem bisher gesagten wird erhellen, daß aus der Natur der Judengesellschaft folge und durch die Geschichte bestätigt werde: die Juden müssen auf eine durchaus unverbesserliche Weise in ihrem widerwärtigen Zustand bleiben, wenn sie nicht aus dem Judenthum heraustreten. Unendlich wichtig wird es also, unser Volk von dieser Pest zu befreyen!“ (S. 19)

„Man verwechselt einen abstracten allgemeinen Ausdruck mit der Wirklichkeit des Einzelnen. So sind hier die Juden mit der Judenschaft, dem Judenthum verwechselt worden. Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg.“ (S. 10)

„Das ist also das wichtigste Moment in dieser Sache, daß diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde, indem sie offenbar unter allen geheimen und öffentlichen politischen Gesellschaften und Staaten im Staat die gefährlichste ist.“ (S. 18)

„Wir müssen ihre möglichste Verminderung wünschen. Einige allgemeine Verfügungen sind daher leicht anzugeben. Jede Einwanderung von Juden soll verboten, die Auswanderung möglichst begünstigt werden. Ihre Heyrathsfreyheit soll noch mehr als bey den Christen beschränkt werden. Vom Lande; sollten sie gänzlich verdrängt werden, weil ihr Einfluß dort gar zu schnell verderblich ist, nur in den Städten sollten sie unter sehr bestimmten Beschränkungen Schutz finden.“ (S. 21)
„Sehr gut wäre es indessen freylich, wenn man, so lang die unter 2. geforderte geistige Annäherung an uns nicht allgemein unter ihnen weit fortgerückt ist, ihnen […] nach alter Sitte wieder ein Abzeichen in der Kleidung aufnöthigte.“ (Ebd.)

„Denkt nur an die Häßlichkeit des Cölibats, oder denkt an die Duldung der Juden, bey denen die Mezger die Geistlichen machen, und auf die schändlichen Lehren des Talmud halten, wobey dem Volke ein leicht bereichernder unehrlicher Handel erblich wird.“ Fries, Jakob Friedrich (1814): Metanoeite. Bekehrt Euch! Heidelberg, S. 47.

„Nur verschuldete Vornehme und die vom Schachergeist ganz besessenen Juden und Judengenossen können sich in den trüben Fluthen dieses Verkehrs [des Finanzhandels; J.H.] gefallen. Allverderbend, wirkt dieser Jammer durch unser ganzes Volk.“ Fries, Jakob Friedrich (1816): Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung. Zweyte Abtheilung, Heidelberg, S. 27.

„Von der andern Seite dagegen, wollen wir Fremde aufnehmen, so mögen wir wohl bedenken, daß im Familienhaushalt der Völker die Stufen der Peregrinität sehr vom Uebel sind. Hierin sind die schlimmsten Fehler begangen worden, wie die Geschichte von Genf so grell zeigt und unsre Belästigung durch die Juden ebenfalls.“ Fries, Jakob Friedrich (1848): Politik oder Philosophische Rechtslehre, Jena, S. 296f.

Vgl. Fries, Jakob Friedrich (1816): Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Heidelberg: Mohr und Winter.

Zimmern, Sigmund (1816): Versuch einer Würdigung der Angriffe des Herrn Professors Fries auf die Juden. Heidelberg: [s.n.], S. 4.

Zimmern, Sigmund (1816): Versuch einer Würdigung der Angriffe des Herrn Professors Fries auf die Juden. Heidelberg: [s.n.], S. 7ff.

Problematisch ist die Unterscheidung zwischen ‚gutem‘ Industriekapital und ‚schlechtem‘ Finanzkapital nicht nur aufgrund der zahlreichen Beleidigungen von Fries und weil er mit letzterem Jüdinnen:Juden identifiziert, sondern weil beide Formen in der kapitalistischen Produktion eng miteinander verzahnt sind. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Eine Kritik, die sich nur gegen eine der beiden Sphären, ist regressiv. Gleiches gilt für eine Kritik, die Personen(-gruppen) mit einer der beiden Sphären identifiziert, statt die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Prozesse zu analysieren und zu kritisieren. Weitergehende Ausführungen dazu finden sich auf den unten verlinkten Websites.

Erb, Rainer/Bergmann, Werner (1989): Die Nachtseite der Judenemanzipation: der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860. Berlin: Metropol, S. 195.

Schäfer, Peter (2020): Kurze Geschichte des Antisemitismus. München: Beck, S. 198.

Alicke, Klaus-Dieter (o.J.): Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Jena (Thüringen). Zit.n.: https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/h-j/1003-jena-thueringen.

Fries, Jakob Friedrich (1803): Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Rechtsgebung. Jena: [s.n.], S. 34.

Fries, Jakob Friedrich (1816): Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung. Heidelberg, S. 58; siehe auch: Fries, Jakob Friedrich (1848): Politik oder Philosophische Rechtslehre, Jena: [s.n.], S. 77ff.

Fries, Jakob Friedrich (1816): Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung. Heidelberg: Mohr und Winter, S. 65.

Fries, Jakob Friedrich (1848): Politik oder Philosophische Rechtslehre, Jena: [s.n.], S. 358.

Ries, Klaus Jürgen (2004): Das politische Professorentum der Universität Jena. Zur Genese der liberal-demokratischen Bewegung im frühen 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, eingereicht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 208.

Ries, Klaus Jürgen (2004): Das politische Professorentum der Universität Jena. Zur Genese der liberal-demokratischen Bewegung im frühen 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, eingereicht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 227.

Fries, Jakob Friedrich (1814): Metanoeite. Bekehrt Euch! Heidelberg: Winter.

Ries, Klaus Jürgen (2004): Das politische Professorentum der Universität Jena. Zur Genese der liberal-demokratischen Bewegung im frühen 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, eingereicht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 277.

So wird Fries etwa neben Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn, Johann Gottlieb Fichte und Lorenz Oken als „Größe des damaligen Geisteslebens“ bezeichnet, der die Gründung der Urburschenschaft unterstützt habe. (Alte Burschenschaft Burgkeller Jena in der DB (o.J.): Wer wir sind. Zit.n. https://www.ehrefreiheitvaterland.de/wer-wir-sind/).

Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833) war eine Zeitgenossin Fries’, die sich kritisch sowohl wie besorgt über Fries’ Hetzschrift äußerte.

Anton Wilhelm Amo (ca. 1703-1753/1784) kam im Kindesalter als ‚Geschenk‘ nach Wolffenbüttel und promovierte an der Universität Halle in den Rechtswissenschaften sowie später in Wittenberg in der Philosophie. 1739 lehrte er ein Semester in Jena.

Vgl. bspw. Szidzik, Britta (2010): Verhüllung als Kunst im 20. Jahrhundert, Dissertation, Univ. Göttingen.

Im Zusammenhang des politischen Wandels hin zum Austrofaschismus wurden im Österreich der 1930er Jahre gezielt Denkmäler nicht nur entfernt, sondern auch verhängt und verhüllt – etwa Denkmäler, die Sozialdemokraten ehrten und an die Gründung der österreichischen Republik (1918) erinnerten. Podbrecky sieht hier den „dringende[n] austrofaschistische[n] Wunsch nach Tilgung der Erinnerung an die verhasste Sozialdemokratie“ am Werk. Vgl. Podbrecky, Inge (2020): Unsichtbare Architektur: Bauen im Austrofaschismus, S. 53ff.

König, Gert (1987): In den Fesseln des Zeitgeists? In: Strack, Friedrich (Hg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewusstsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 526-527.

Hubmann, Gerald (2001): Sittlichkeit und Recht. Die jüdische Emanzipationsfrage bei Jakob Friedrich Fries und anderen Staatsdenkern des Deutschen Idealismus, in: Horst Gronke, Thomas Meyer, Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Würzburg: K & N, S. 125-152, hier S. 151.

Ries, Klaus Jürgen (2004): Das politische Professorentum der Universität Jena. Zur Genese der liberal-demokratischen Bewegung im frühen 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, eingereicht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 202.

Hess, Michael (1816): Freimüthige Prüfung der Schrift des Herrn Professor Rühs, über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Frankfurt am Main: Hermann, S. 89f. URL: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis:30-180010642008.

Hubmann, Gerald (2001): Sittlichkeit und Recht. Die jüdische Emanzipationsfrage bei Jakob Friedrich Fries und anderen Staatsdenkern des Deutschen Idealismus, in: Horst Gronke, Thomas Meyer, Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Würzburg: K & N, S. 125-152, hier S. 151.

König, Gert (1987): In den Fesseln des Zeitgeists? In: Strack, Friedrich (Hg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewusstsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 526-527.

Vgl. Kay, Herrmann (2020): Neuer Büstenstreit um den Philosophen Jakob Friedrich Fries in Jena – Der  verhüllte  Philosoph, in: tabularasa vom 15.07.2020. URL: https://www.tabularasamagazin.de/neuer-buestenstreit-um-den-philosophen-jakob-friedrich-fries-in-jena.

Hessenauer, Jonas (2020): Die politische Philosophie von Fries. In: Das Forschungsseminar „Antijudaismus und Antisemitismus in Werken der Philosophie – diskutiert am Beispiel des Jenaer Philosophen J. F. Fries“ – ein Werkstattbericht. Jena, S. 27-35, hier S. 32f. URL: https://wieumgehenmitrsa.uni-jena.de/wp-content/uploads/2021/02/00-Werkstattbericht-Fries-_komplett.pdf.

Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. 3. Aufl. Berlin: Siedler, S. 77.

Hubmann, Gerald (2001): Sittlichkeit und Recht. Die jüdische Emanzipationsfrage bei Jakob Friedrich Fries und anderen Staatsdenkern des Deutschen Idealismus, in: Horst Gronke, Thomas Meyer, Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Würzburg: K & N, S. 125-152, hier S. 137f.

Geldsetzer, Lutz (1999): Jakob Friedrich Fries’ Stellung in der Philosophiegeschichte, in: Wolfgang Hogrebe, Kai Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 13-56, hier S. 49.

Geldsetzer, Lutz (1999): Jakob Friedrich Fries’ Stellung in der Philosophiegeschichte, in: Wolfgang Hogrebe, Kai Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 13-56, S. 53.

Ben-Yehoshua, Joël (2020): Zur Moral- und Rechtsphilosophie von Fries, In: Das Forschungsseminar „Antijudaismus und Antisemitismus in Werken der Philosophie – diskutiert am Beispiel des Jenaer Philosophen J. F. Fries“ – ein Werkstattbericht. Jena, S. 9-25, hier S. 9. URL: https://wieumgehenmitrsa.uni-jena.de/wp-content/uploads/2021/02/00-Werkstattbericht-Fries-_komplett.pdf.

Varnhagen von Ense, Karl August (1971): Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. 2 Bde. Bd. 2: Die Diplomatische Mission. Berlin: Rütten und Loening, S. 283-286.